Nach den Übergriffen auf Ausländer in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 verfasste ich für die Märkische Oderzeitung den folgenden Kommentar:
Verantwortung fur den Rechtsstaat
Immer wieder ertönen nach den Vorfüllen in Rostock die Rufe: Wo war der Rechtsstaat? Er war nicht an Ort und Stelle, und daher waren die Krawalle so schlimm. Doch wer ist das, was ist das: der Rechtsstaat?
Die bei vielen Bürgern nicht sonderlich beliebten uniformierten Ordnungshüter, auf die geflucht wird, wenn sie Strafzettel für Falschparker verteilen, sind dann plötzlich wichtig, nötig und in viel zu geringer Zahl vertreten. Sie sollen den Kopf hinhalten für die Auswüchse der Unzufriedenheit, der sozialen Haltlosigkeit und Intoleranz in Teilen der Bevölkerung. Egal, was die Beamten machen, sie sind die Sündenböcke. Entweder sie haben nicht richtig „zugepackt“, oder es herrschte „Polizeiterror“. So wie es gerade in die Denkschablone paßt.
Keiner hat mit den Geschehnissen etwas zu tun, aber der Rechtsstaat soll für Frieden sorgen.
In einem freiheitlichen System muß sich jeder einzelne als Teil des Rechtsstaates verstehen, jeder muß Verantwortung für seine Taten und jene tragen, die in seiner unmittelbaren Umgebung begangen werden. An die Stelle von Zivilcourage treten jedoch Rufe nach Obrigkeit. Die Vorfälle werden politisiert, den Gewalttätigen wird unterstellt, sie hätten politische Motive. Das macht es für die vermeintlich Linken leicht, wieder über die Rechten zu schimpfen, obwohl in ihrem tiefsten Inneren vielleicht auch latenter Fremdenhaß schlummert. Sie würden es ebenfalls auf die sogenannte „Asylantenflut“ schieben, wenn sie ihren Job verlören oder keine Wohnung fanden. Aber Pogrome – nein, die will niemand.
In der aufgeheizten Situation inmitten der Straßenschlacht sind diese Vorsätze oft vergessen. Das Gesetz der Gruppe regiert und schaltet offenbar selbst bei Umstehenden die Gehirne aus.
Um den Rechtsstaat zu einer festen, die Bewohner des Landes schützenden Größe zu machen, bedarf es auch des Einsatzes und der Einsicht des einzelnen in die Gesetzlichkeit. Manche, die in Rostock den Angreifern applaudierten, wollen das Geschehens schon heute nicht mehr wahr haben – wenn die Zerstörung fortschreitet, werden sie es sein, die nach dem Rechtsstaat rufen.
DIRK AUGELE
Märkische Oderzeitung, 28. August 1992, Seite 2