Der Kampf gegen das Selbst
Im letzten Winkel einer psychiatrischen Klinik fristet eine als „therapieresistent“ eingestufte junge Frau ihr Dasein und hat keine Zukunft
Von DIRK AUGELE
Die Ursachen für das auffällige Verhalten, das zur Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus führt, sind nur in sehr wenigen Fällen eindeutig nachzuvollziehen. In der Regel sind Therapeuten und Ärzte in den Anstalten mit Symptomen konfrontiert. Bei Langzeitpatienten sind die Auffälligkeiten häufig auch durch das Leben auf den Stationen geprägt. Im Fall von Christel, die sich seit früher Kindheit selbst zerstört und daher ständig angebunden ist, konnten die Ursachen nicht ergründet werden. Medikamentöse und psychotherapeutische Ansätze sind mangels Erfolg aufgegeben worden. Der Autor verfolgte das Leben der jungen Frau über einen Zeitraum von neun Jahren.
Christel liegt in ihrem Bett. Hände und Füße sind mit breiten Lederriemen eng an den schweren Metallbettrahmen gebunden. Unter den Armen und über die Brust zieht sich ein weiterer Gurt, der verhindert, daß Christel den Oberkörper aufrichten kann. Neben dem typischen Krankenhausbett, an das sie gefesselt ist, steht ein ebenso typischer Kliniknachttisch, ein Stuhl, ein kleiner runder Tisch und ein großes Paket Windelhosen. Über ihrem Gesicht hängt eine blaue Pendelleuchte, die nur selten durch einen Luftzug leicht in Bewegung gesetzt wird.
Zwei Zimmer weiter befindet sich der Aufenthaltsraum, in dem ein Radio ständig läuft. Wenn die Türen offen stehen, dringen Fetzen von Musik bis in das Zimmer der jungen Frau.
Christel lebt seit etwa 15 Jahren in einem psychiatrischen Krankenhaus. Im Alter von sieben Jahren war sie eingewiesen worden. Einen Großteil ihres Lebens hat sie Tag und Nacht an ein Bett gebunden verbracht. „Dauerfixierung“ nennen das die Leute, die beruflich mit ihr zu tun haben. Diese Menschen werden dafür bezahlt. Verwandte, Bekannte und kurzzeitige Freunde hat Christel weggejagt.
Einer dieser Freunde war Frank, ein ehemaliger Patient. Er hatte seit seiner Geburt eine furchtbar entstellte Gesichtshälfte. Wahrscheinlich waren die Leute bei seinem Anblick so erschrocken, daß er schließlich in der Psychiatrie weggeschlossen wurde. Frank war nie gefördert und daher schnell mit dem Etikett: „Debilität“ versehen worden. Er war ausgesondert und stigmatisiert. Inzwischen lebt Frank in einer Behinderteneinrichtung draußen.
Christel wäre eine hübsche Frau geworden, hätte sie nicht ihre Vergangenheit. In ihren frühen Lebensjahren mußten bestimmte Geschehnisse die Wurzeln für immense Kräfte der Selbstzerstörung und -beschädigung gebildet haben. Ebenso wie Frank verfügte Christel ursprünglich über einen Intellekt, mit dem eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben möglich gewesen wäre. Ihre Auffälligkeit ist ihr Verhalten.
Nicht angebunden verletzt oder mißhandelt sie sich selbst, schlägt sich den Kopf auf, beißt sich Stücke aus den Oberarmen oder attackiert andere Patienten und das Personal. Christel wünscht ihre Fixierung, denn sie lebt in ständiger Angst vor dem Schmerz, den sie sich selber zufügt.
Vor vier Jahren bekam sie regelmäßig Besuch von einem Klinikpfarrer, der ihr aus der Bibel vorlas. Wer ist ein besserer Zuhörer als jemand, der an ein Bett gebunden ist? Weil Christel ständig alleine war, hatte sie die Anekdoten schnell verinnerlicht. Sie begann, von Begriffen wie Himmel und Hölle zu reden. Sie fühlte sich dem Teufel nahe und versuchte, in die Hölle zu kommen. Aber auch Jesus wurde zitiert, als sie sich unangebunden zuerst auf die linke Wange schlug, um sich dann auf die rechte zu boxen. Sie wollte alles Schlechte der Welt für sich. Sie begann zu hungern.
Die Pflegekräfte behielten leicht den Überblick, denn Christel wurde gefüttert und gewindelt. Nicht aufgrund ihrer eigenen Unfähigkeit, sondern aus Sicherheits- und hygienischen Gründen. Sie meinte es ernst.
Auf den Stationen, auf denen sie bisher lebte, konnte Christel zeitweise in einem besonderen Stuhl mit Gurten am Stationsgeschehen teilnehmen. Allerdings war sie über viele Jahre unter geistig schwerst und Mehrfachbehinderten untergebracht gewesen. Einzige Gesprächspartner waren die seltenen Schwestern und Pfleger. Christel hatte sich in mentaler Quarantäne befunden. Als die Patienten seinerzeit nach dem Grad ihrer Behinderung unterteilt wurden, verblieb Christel bei den schwerst Behinderten, den Pflegefällen.
Nach einigen Jahren der totalen geistigen Isolation begann die junge Frau, die Verhaltensweisen der Patienten zu übernehmen und wurde auf eine Station mit geringer behinderten Menschen verlegt. In ihrem Stuhl verfolgte sie das Stationsgeschehen, wurde von Zeit zu Zeit in den Aufenthaltsraum geschoben und konnte sich mit manchen anderen Patienten unterhalten oder Radio hören.
Als sie einen Moment unbeaufsichtigt losgebunden war, würgte sie die kleinste und schwächste Bewohnerin der Station. Nachdem das Schlimmste verhindert werden konnte, erklärte Christel, es mußte die Schwächste sein, denn sie wähne sich mit dem Teufel im Bunde. Christel wurde noch gründlicher gesichert.
Sie erzählte dem Psychologen, dem Arzt und einigen Pflegern, sie werde sich mit einem Messer in ihrem Stuhl umbringen. Beeindruckt durch ihre außergewöhnlichen, im Fachausdruck: „pathologischen“, Willenskräfte wurde beschlossen, Christel vorerst angegurtet im Bett in ihrem Einzelzimmer zu belassen; aus Sicherheitsgründen.
Tage, Wochen und Monate vergingen. Nur selten öffnete sich die Tür des Zimmers, das am hintersten Ende der Station lag. Ab und zu Windeln wechseln, dazu das absolute Minimum an Nahrung, das ein Mensch zum Leben braucht. Christel hungerte wieder und entfernte sich Tag für Tag zunehmend aus einer reizlosen Welt in eine innere.
Es wurde gesagt, generell leide sie an einer neurotischen Fehlentwicklung und befände sich derzeit in einer Krise. Sie hörte auf, aus ihrer Phantasiewelt zu erzählen, die sie sich in den vielen Jahren zuvor erschaffen hatte. Sie war nicht mehr ansprechbar, und es sah aus, als wäre sie nicht mehr in die Realität zurückzuholen.
Christel hatte es geschafft. Mit ein paar gezielten Worten hatte sie sich besondere Qualen zukommen lassen. Ihre Selbstzerstörung hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Und alle hatten ihr dabei geholfen.
Wieder kommt ein leichter Windstoß durch das offene Fenster, und die blaue Pendelleuchte schwingt vorsichtig hin und her. Christel ist unter den Armen wund, der Brustgurt hat ihr die Haut aufgescheuert. Sie äußert keinen Schmerz, sie bemerkt den Windstoß nicht mehr; eines der wenigen Geschehnisse in ihrem Zimmer in den vergangenen Monaten. Christel ist ruhig und kaum aggressiv, zwar so gut wie gar nicht ansprechbar, dafür pflegeleicht.
Sie darf in ihrem Stuhl wieder am Stationsgeschehen teilnehmen. In den nächsten Tagen werden die Umweltreize der psychiatrischen Station besonders heftig auf sie eindröhnen. Sie wird weiterleben und weitermachen: Patienten beschimpfen, bis sie von ihnen geschlagen wird, Pfleger wütend machen, damit sie sich weniger um sie kümmern.
Im Grunde ist Christel ein normaler Mensch, im Innersten will sie alles Gute und Schöne, sie will Spaß haben. Bloß sie kann es nicht zulassen.
Wie ein Hammer schlägt das aufgedrehte Radio in ihren Kopf. Eine Stimme erzählt etwas von Schokoriegeln. Christels Augen sind zugekniffen, und sie schluckt das Wasser, das ihr im Mund zusammenläuft.
aus: Märkische Oderzeitung,
28. August 1992, Seite 21